Lockerungen in der Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige (?)

Beabsichtigt der Arbeitgeber einen Personalabbau, ist er ggfs. dazu verpflichtet, der Agentur für Arbeit (AfA) vor Ausspruch der beabsichtigten Kündigungen Anzeige zu erstatten. § 17 KSchG enthält mehrere Vorgaben hinsichtlich der Durchführung dieser Massenentlassungsanzeige (MEA). Entspricht die Anzeige diesen nicht, führt das nach bisheriger Rechtsprechung zu Unwirksamkeit der in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen. Massenentlassungen stellen daher ein Risiko für den Arbeitgeber dar.

Mitte des Jahres kündigte sich mit einer Entscheidung des EuGH jedoch ein Kurswechsel an, der nun zum Jahresende vom 6. Senat des BAG aufgegriffen wurde. Dieser beabsichtigt die Rechtsprechung zum Sanktionsregime bei fehlerhaften Anzeigen aufzugeben und hat deshalb den 2. Senat angerufen.

Die Entwicklung der Rechtsprechung und deren Bedeutung für die arbeitsrechtliche Praxis sollen hier zusammengefasst werden.

Bisherige Rechtsprechung – Ansicht des 2. Senats

Bislang wurde die Rechtsprechung zur Wirksamkeit von Kündigungen bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen vor allem vom 2. Senat geprägt. Danach stellen die Regelungen zur Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 3 KSchG ein Schutzgesetz i. S. d. § 134 BGB dar. Daraus ergibt sich die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige, soweit diese fehlerhaft vorgenommen wird und damit auch die Unwirksamkeit der Kündigungen.

Dies begründet das BAG im Wesentlichen mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot, also dem Rechtsgrundsatz, wonach den Normen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf nationaler Ebene größtmögliche praktische Wirkungskraft zu verleihen ist. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei vor allem die Massenentlassungsrichtlinie der europäischen Union (MERL) und deren vermeintlicher Zweck, die nach Ansicht des 2. Senats auch den einzelnen Arbeitnehmer schützen soll.

Entscheidung des EuGH vom 13.7.2023 – C-134/22

Es verwundert daher nicht, dass die Thematik schließlich auf dem Tisch des EuGH gelandet ist. Dieser hat mit der Entscheidung vom 13.7.2023 – C-134/22 mehr Klarheit geschaffen. Die in der MERL vorgesehene Verpflichtung des Arbeitgebers zur Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Behörde hat nicht den Zweck, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Mit anderen Worten: Die Regelungen zur MEA nach der MERL und § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG stellen kein Schutzgesetz i. S. d. § 134 BGB dar. Dafür müsste die Norm besagten Individualschutz beinhalten, was nach Ansicht des EuGH nicht der Fall ist.

Eine abschließende Entscheidung hat der EuGH damit jedoch nicht gegeben, da er sich allein auf die Vorgaben nach § 17 Abs. 3 S.1 KSchG bezogen hat. Für die Vorgaben nach § 17 Abs. 3 S. 2 und 3 KSchG wurde keine Entscheidung gefällt, so dass die Verunsicherung weiter anhielt.

Neue Entwicklung – Ansicht des 6. Senats

Schon die Entscheidung des EuGH macht deutlich, dass die Vorgaben an Unternehmen nicht überstrapaziert werden dürfen und nicht jeder Verstoß gegen die Vorgaben der MERL die Rechtsfolge des § 134 BGB auslösen muss. Damit wurde jedoch nicht entschieden, ob das in Deutschland praktizierte Sanktionssystem bei Verstößen gegen die §§ 17 ff. KSchG im Einklang mit der „Systematik des Massenentlassungsschutzes“ stehe.

Nun hat das BAG die Entscheidung, die es bereits dem EuGH vorgelegt hatte, erneut ausgesetzt. Diesmal für eine Vorlage beim 2. Senat wegen bestehender Divergenz nach § 45 Abs. 3 S. 1 ArbGG.

Laut Pressemitteilung des 6. Senats des BAG sollen (in Reaktion auf das Urteil des EuGH) Ver­stö­ße gegen § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG künf­tig nicht mehr zur Un­wirk­sam­keit der Kün­di­gung füh­ren. Hierin liegt eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des 2. Senats des BAG seit dessen Urteil vom 22. 11.2012 – 2 AZR 371/11. Der erkennende Senat hat deshalb in dem Verfahren mit Beschluss vom heutigen Tag nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG angefragt, ob der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhält, und den Rechtsstreit bis zur Beantwortung der Divergenz-Anfrage entsprechend § 148 ZPO ausgesetzt.

Die neue Ansicht findet sich bereits in anderen Entscheidungen des BAG wieder. So entschied das BAG (Urteil vom 11.5.2023 – 6 AZR 267/22), dass geringe Abweichungen beim Lebensalter des von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmers nicht zur Unwirksamkeit führen, wenn der Fehler so gering ist, dass er sich nicht auf die Vermittlungsbemühungen der AfA auswirken könne. Auch stellte das BAG klar, dass die unterlassene Zuleitung einer Abschrift der bei der AfA eingereichten Anzeige an den Betriebsrat entgegen § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der betroffenen Kündigungen führt. Selbst der 2. Senat (Urteil vom 19.5.2022 – 2 AZR 467/21) hat betont, dass das Fehlen der Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG ebenfalls nicht zur Unwirksamkeit der MEA führt.

Bewertung und Folgen für die Praxis

Anders als in diesen Einzelfällen will der 6. Senat nun seine Rechtsprechung grundlegend ändern. Gibt der 2. Senat seine bisherige Rechtsprechung auf, wäre der Weg frei. Andernfalls wäre der 6. Senat wegen fortbestehender Divergenz nach § 45 Abs. 2 ArbGG verpflichtet, den Großen Senat anzurufen.

Unter Berücksichtigung der neueren Entwicklungen könnte bald das Ende der Massenentlassungsanzeige als Risiko des Arbeitgebers eingeläutet werden. Die Antwort des 2. Senats bleibt daher mit Spannung abzuwarten.

Autorin

Dr. Kerstin Reiserer - RBL - Reiserer Baade Lachmann Arbeitsrecht
Dr. Kerstin Reiserer