Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Anordnung vorzeitiger Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

BAG, Beschluss vom 15.11.2022 – 1 ABR 5/22

Gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) unterliegen Verhaltensregeln, die das Zusammenleben der Arbeitnehmer betreffen, der Mitbestimmung des Betriebsrates. Ob hierunter auch Anordnungen des Arbeitgebers im Hinblick auf die Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigung) fallen, die bereits ab dem ersten Fehltag vorzulegen sind, hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung zu prüfen. Die Einzelheiten und Folgen des Beschlusses besprechen wir im folgenden Beitrag.

Sachverhalt

Die Arbeitgeberin beschäftigt etwa 1.175 Arbeitnehmer. Seit dem Jahr 2018 hatte die Arbeitgeberin insgesamt 17 Arbeitnehmern gleichlautende schriftliche Anordnungen erteilt, welche die Pflicht vorsahen, ab Erhalt des Schreibens für jede Krankmeldung vom ersten Fehltag an ein ärztliches Attest vorzulegen.

Der Betriebsrat war der Auffassung, bei dieser Angelegenheit über ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zu verfügen. Dies begründete er damit, dass es sich bei den Anordnungen um eine Maßnahme mit kollektivem Bezug handele, die das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer betreffe. Die Anordnungen der Arbeitgeberin seien daher ohne die Zustimmung des Betriebsrats unwirksam und zu unterlassen. Dies machte der Betriebsrat schließlich auch gerichtlich geltend.

Entscheidung des BAG

Das BAG teilte die Ansicht des Betriebsrates nicht. Nach der Auffassung der Erfurter Richter betrifft die Anordnung, einen Nachweis über die Arbeitsunfähigkeit in einer bestimmten Form und ggf. innerhalb einer bestimmten Frist zu erbringen, zwar im Grundsatz das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer. Es liege allerdings kein für die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG erforderlicher kollektiver Sachverhalt vor. Ein solcher setze die Regelhaftigkeit der arbeitgeberseitigen Anordnungen voraus.  Eine solche Regel erkannte das BAG im vorliegenden Fall jedoch nicht.

Der Arbeitgeber sei nach § 5 Abs. 1 Satz 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes grundsätzlich berechtigt, den Nachweis über die AU im Einzelfall bereits vor dem gesetzlich vorgesehenen vierten Tag der Erkrankung zu fordern. Die entsprechende Anordnung gegenüber mehreren Arbeitnehmern, wenngleich gleichlautend und in gleichmäßiger Form, führe daher nicht schon für sich zur Annahme eines kollektiven Bezugs. Gegen die Annahme einer Regelhaftigkeit spreche dabei auch, dass das Verlangen der vorzeitigen Vorlage der AU in knapp drei Jahren bei mehr als 1.000 Beschäftigten lediglich 17 Arbeitnehmer betraf. Auch die Erteilung der Anordnung in Abstimmung mit dem jeweiligen Fachvorgesetzten weise auf eine Entscheidung im Einzelfall hin und spreche demgegenüber gegen eine Regelhaftigkeit.

Anders wäre zu entscheiden gewesen – so das Gericht –, wenn der Arbeitgeber seine sich selbst auferlegte Regel vollziehe, etwa indem die Anordnung gleichermaßen gegenüber allen Arbeitnehmern, gegenüber einer Gruppe oder jedenfalls immer dann erteilt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Dies erfülle die Voraussetzung des kollektiven Tatbestands und löse damit das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus. Aus der Anordnung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, welche durch häufige Kurzerkrankungen oder hohe Fehlzeiten bei einer Vielzahl von Einzelfehltagen auffallen, könne allerdings nicht auf den Vollzug einer Regel in diesem Sinne geschlossen werden, solange nicht stets die gleichen Voraussetzungen als Entscheidungsmaßstab dienen.

Praxisfolgen und Fazit

Arbeitgeber können sich Insbesondere dann, wenn es im Betrieb zu häufigen Kurzerkrankungen kommt, veranlasst sehen, eine Pflicht zur Vorlage der AU-Bescheinigung bereits ab dem ersten Fehltag anzuordnen, um so missbräuchlichen Krankmeldungen vorzubeugen. Der Beschluss des BAG verdeutlicht, dass das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats hierbei Grenzen hat. Es besteht nicht, wenn der Anordnung kein regelhaftes Vorgehen zugrunde liegt. Eine erzwingbare Beteiligung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG kann dadurch rechtssicher ausgeschlossen werden, dass die Anordnung der vorzeitigen Vorlage der AU-Bescheinigung im Wege einer einzelfallabhängigen Prüfung und eines auch im Übrigen nicht regelhaften Vorgehens erfolgt. Dies bedeutet beispielsweise, dass im Ergebnis nicht nur eine bestimmte Arbeitnehmergruppe von derartigen Anordnungen des Arbeitgebers betroffen sein darf oder die Anordnung nicht stets ab einer bestimmten Anzahl von krankheitsbedingten Fehltagen erfolgen darf.

Entsprechendes gilt für die zu Beginn des Jahres für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer eingeführte elektronische AU-Bescheinigung, über die wir im Newsroom bereits berichtet haben. Der elektronische Abruf der Bescheinigung durch den Arbeitgeber kann auch hier bereits ab dem ersten Krankheitstag ohne Mitbestimmung des Betriebsrats erfolgen, wenn dies auf eine Anordnung im Einzelfall zurückzuführen ist.

Autor

RBL-Reiserer-Baade-Lachmann-Arbeitsrecht-Maximilian-Lachmann-Rechtsanwalt
Maximilian Lachmann